Das Netz im Stall
Ihr kennt doch alle die Geschichte von Jesus: Wie seine Eltern versucht haben, ein Zimmer zu finden, überall abgewiesen wurden, es immer kälter wurde, bei Maria die Wehen einsetzten, sie in letzter Minute in einem Stall übernachten durften, in dem dann Jesus zur Welt kam. Wie sie ihn in eine Futterkrippe legten, drei Könige kamen, um Jesus zu beschenken, Engel, die den Hirten sagten, dass heute der Herr geboren wurde.
Diese Geschichte wurde schon oft erzählt. Es gibt Versionen von Maria, von Joseph, den Hirten, dem Esel, der Kuh, der Maus…, aber dies ist meine Geschichte.
Ich bin Quendulin. Und ich hatte den besten Platz im Stall, ganz oben an der Decke, bei dem Balken in der Ecke – da wohne ich!!! Normalerweise bin ich es gewohnt, wenn Menschen in den Stall kommen, dass sie erst mal mein Zuhause kaputt machen. Dann verstecke ich mich ganz schnell hinter dem Balken, weil am liebsten würden sie mich auch kaputt machen. Wenn die wüssten, wie viel Arbeit es kostet ein so schönes, schillerndes Netz zu spinnen. Auf jeden Fall war es in dieser Nacht ganz anders. Ich hörte schon von fern die eilenden Schritte. Grete, das ist die Kuh, die auch im Stall stand, wurde schon ganz nervös. Da ging die Tür auf und Maria, die von Joseph gestützt wurde, kam rein. Dann kam noch Emil in unseren Stall, den ich in dieser Nacht kennenlernte. Er stellte sich neben Grete und fraß das Heu, das Grete übrig gelassen hatte. Ich hab mich gleich wieder hinter meinem Balken versteckt, aber dieses Mal wollte mich und mein Zuhause niemand kaputt machen. Aber ich sage euch, das war ein Geschrei. Es muss wohl wirklich weh tun, ein Baby auf die Welt zu bringen. Und dann Joseph, der Arme war mit der Situation total überfordert, hielt aber liebevoll die ganze Zeit Marias Hand. Auf einmal hörte das Geschrei auf. Ich ließ mich ein wenig herab, um besser sehen zu können. Da durchbrach wieder Geschrei die Nacht. Aber dieses Mal nicht das Geschrei von Maria – nein, es war ein zartes Geschrei, es war eher ein Rufen, ein „Heeey, ich hab’s geschafft und bin auf der Welt! Hallo alle zusammen!“ Ja genau, so ein Geschrei war es! Aber auch dieses Geschrei verstummte bald, weil das Baby eingeschlafen war. Es muss wohl auch echt anstrengend sein, auf die Welt zu kommen. Wer dachte, jetzt war es Zeit zu schlafen, irrte gewaltig. Jetzt ging es erst so richtig los. Die Tür ging auf, und es kamen Hirten, Engel hab ich auch gesehen. Und sogar Könige kamen, um das Baby zu sehen. Das muss wirklich ein besonderes Baby sein, dachte ich mir, wenn Hirten, Engel und Könige unterwegs sind.
Nach einigen Stunden wurde es ruhiger, Maria schlief, Emil schlief, Grete schlief und Joseph, Joseph schlief auch. Er hat sich aber echt lange wach gehalten und immer wieder die Fliegen vertrieben, die um das Baby flogen. Weil das mögen Babys nicht. Und wer schon mal in einem Stall war, weiß wie viele Fliegen hier wohnen.
Alle schliefen tief und fest. Es war ja auch ein aufregender Tag für alle gewesen. Da, auf einmal schlug das Baby die Augen auf und es schaute mich an. Direkt – ohne sich vorher umzuschauen. Mich schaute es an! Und lächelte. Auf einmal wurde mir warm – so etwas hab ich noch nie gespürt. Ich hatte keine Angst mehr. Irgendwie war alles gut. Ich ließ mich hinab zu dem Kind, ganz langsam, ich wollte es ja nicht erschrecken, weil normalerweise schreien alle immer, wenn sie mich sehen und versuchen, mich zu zertreten oder zu erschlagen. Naja, auf jeden Fall schreien immer alle, wenn sie mich sehen. Aber nicht das Baby, je näher ich kam, umso mehr lächelte das Baby. Ich hatte auf einmal keine Angst mehr. Ich weiß, Babys können nicht sprechen, aber es war, als würde es zu mir sagen: „Quendulin, du bist genau richtig, so wie du bist.“ Ein tolles Gefühl. Ich hab gemerkt, dass die Fliegen immer noch um das Baby kreisten. Und so webte ich…, ich webte das schönste und schillerndste Netz, das ich je wob. Keine Fliege sollte das Baby mehr ärgern. Nachdem ich das schönste Netz fertig gewebt hatte, schloss das Kind die Augen und schlief friedlich ein. Ich aber hielt die ganze Nacht Wache.
Es gibt viele Geschichten von der Geburt von Jesus, von Hirten, die ihre Herden verließen,von Königen, von Engeln, die in dieser Nacht unterwegs waren, von einem Stern, der genau über dem Stall leuchtete. Aber ich war es, der die ganze Nacht bei dem Kind Wache hielt.
Ich bin Quendulin, Quendulin, die Spinne, und das war meine Geschichte.
– von Johann Günther –